Vorhang auf für Linie 1!

Vorhang auf für Linie 1!
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9. Dezember 2024
Vorhang auf für Linie 1!
Vorhang auf für Linie 1!

Heute feierten wir die Premiere unseres neuen Stücks „Linie 1“ – ein voller Erfolg. Nach elf Monaten Vorbereitung geht damit unsere lange ersehnte Aufführungswoche los. Noch sieben im Vorverkauf komplett ausverkaufte Vorstellungen stehen an. Bis dahin war es aber ein langer Weg.

Wer schon länger in Mittweida lebt oder arbeitet, kennt die Hochschulbühne Mittweida vor allem für ihre Musicalaufführungen. Seit dem ersten Versuch mit „Fame“ 2016 haben wir Jahr um Jahr immer wieder eine Schippe draufgelegt, sei es mit der komplizierten musikalischen Untermalung von Frank Wildhorns „Dracula“, den schauspielerisch fordernden Szenen aus „Aida“ oder der aufwendigen Bühnenkonstruktion für den Off-Broadway-Klassiker „Der kleine Horrorladen“. Dann zwangen uns die globalen Umstände leider zu einer mehrjährigen Pause. Das hieß nicht nur, dass wir unseren langjährigen Fans keine neuen Stücke bieten konnten. Gravierender war, dass wir in diesem Zeitraum so gut wie alle erfahrenen Ensemble- und Teammitglieder verabschieden mussten, da sie ihr Studium beendeten, ohne dass wir neue Jahrgänge anlernen konnten.

Anfang 2023 wagten wir dann den Neustart. Doch aufgrund des bis auf die involvierten Hochschulmitarbeiter komplett neuen und nicht eingespielten Teams stand die große Frage im Raum: Was trauen wir uns überhaupt zu? Starten wir direkt wieder mit einem Musical? Gehen wir zurück zu klassischem Theater? Nein, sagten wir – wir wollen Musik! So entschieden wir uns, zunächst ein eigenes Weihnachts-Showprogramm zu entwerfen. Auf diesem Weg konnte sich eine eingespielte Band finden, wir konnten das Ensemble stimmlich ausbilden und es gab uns die Möglichkeit zu evaluieren, was wir nächstes Jahr probieren wollen. Und im Dezember 2023 wussten wir: Wir wagen uns wieder an ein Musical!

Ein Musical-Klassiker aus Deutschland

Aufmerksame Gäste unseres Weihnachts-Showprogramms konnten schon anhand der Verabschiedung mit „Bis neulich!“ erraten, wohin die Reise gehen sollte, doch selbst im Team war der Plan zu dem Zeitpunkt noch geheim. Zur Dernièrenfeier, unserer traditionellen Party nach der letzten Aufführung, verkündete der Projektleiter Prof. Mike Winkler der versammelten Mannschaft, was wir spielen würden: „Linie 1“. Vielen im Team sagte das Stück zunächst nichts. Klar, ganz so bekannt wie die großen Broadway-Musicals oder die Stücke der Stage-Bühnen ist es schließlich nicht. Aber je mehr man sich dazu belas, desto größer wurde die Vorfreude.

„Linie 1“ ist das meistinszenierte, meistaufgeführte und meistbesuchte Theaterstück im deutschsprachigen Raum. Uraufgeführt wurde es 1986 im Berliner GRIPS Theater. Die Texte stammen von Volker Ludwig, dem Gründer des Theaters, und die Musik von Birger Heymann, seinem langjährigen Freund und Schaffenspartner. Zunächst wurde das gesellschaftskritische Stück von größeren Bühnen weitgehend ignoriert, bis „Linie 1“ als einziger deutscher Beitrag bei den Stuttgarter Theaterwochen Aufmerksamkeit erhielt. Es folgten unzählige nationale Inszenierungen und eine 1988 veröffentlichte Verfilmung.

Vier männliche Darsteller in Pelzmänteln und Makeup, die die Wilmersdorfer Witwen spielen

Ihre Nazi-Ehemänner mögen nicht mehr unter ihnen weilen, das Gedankengut blieb aber: Die Wilmersdorfer Witwen stören sich im Stück an allem, was neu und anders ist. Klassischerweise werden die vier Damen von Männern in Pelzmänteln gespielt.

Doch auch international startete die „Linie 1“ durch. Bühnen verschiedenster Länder adaptierten das Stück, um ihre eigenen sozialen Brennpunkte darzustellen. Die wohl erfolgreichste Variante ist „Seoul Line 1“. In dieser Version des Stücks fährt eine junge Koreanerin chinesischer Abstammung mit der Bahn zwischen dem Seouler Hauptbahnhof und dem damaligen Rotlichtbezirk Cheongnyangi 588. Die Wilmersdorfer Witwen werden hier zu Witwen früherer Militärs. Mit über 4.000 Aufführungen in seiner 13-jährigen Laufzeit am Hakchon-Theater wurde sogar das GRIPS Theater, welches 2023 seine 2.000. Aufführung feierte, deutlich überholt. Die beiden Theater verband bis zur Schließung des Hakchon 2023 eine enge Freundschaft mit regem Austausch.

Theater hinter den Kulissen

„Linie 1“ ist ein Stück mit unzähligen Charakteren. In der ursprünglichen Fassung spielten nur 11 Ensemblemitglieder ganze 90 Charaktere. Das bringt nicht nur viel Text pro Person mit sich, sondern natürlich auch wahnsinnig eng getaktete Umzugszeiten. Jeder Song wurde von Volker Ludwig genau platziert, um das derweil freie Ensemble in die nächsten Rollen schlüpfen zu lassen. Im GRIPS-Buch erinnert er sich, dass hinter den Kulissen mehr Theater stattfand als auf der Bühne.

In unserer Fassung ist es etwas weniger eng geplant, aber dennoch ein permanentes Gewusel hinter der Spielfläche. Fast 60 Charaktere gilt es zum Leben zu erwecken. Aus Erfahrung mit früheren Stücken haben wir uns außerdem das Ziel gestellt, mit zwei kompletten Besetzungen zu spielen. Das bedeutet einen gewaltigen Aufwand für die verschiedenen Bereiche. Es braucht Kostüme für alle Rollen, aufgrund der Doppelbesetzung meistens in verschiedenen Größen. Jedes Ensemblemitglied muss mikrofoniert werden. Das heißt auch, dass die Tontechniker am Pult sehr kleinteilig schalten müssen. Wenn dann noch die schnellen Umzüge und teilweise ein fixes Umschminken (an eigens dafür unter die Bühne gebauten Schminktischen) dazukommt, wird es schnell chaotisch. Um dieses Chaos zu zähmen, arbeiten vor allem die Bereichsleiter akribisch an der Planung. Es ist kaum vorstellbar, wie viele Excel-Tabellen angelegt wurden, um die Maskenzeiten zu planen, die Mikrofone zu überblicken oder die Positionen für Umzüge im Blick zu haben.

Mehrere Darsteller in Touristen-Outfits vor einem Dirigenten, aufgestellt wie ein Chor

Wer sich nicht gerade schon für die nächste Rolle umzieht oder umgeschminkt wird, spielt im Zweifel als Passant irgendwo mit – oder wie hier im spontanen Touristen-Chor.

Proben, proben, proben

Um das fast dreistündige Musical mit all seinen Herausforderungen auf die Bühne bringen zu können, fing das Team der Hochschulbühne schon früh an, das Stück zu erarbeiten und die Szenen zu proben. Auch hier ist es gar nicht so einfach, Proben fürs Ensemble sinnvoll zu planen. Schließlich muss nicht nur geschauspielert werden. Auch Tanz und Gesang wollen geprobt werden. Aber wenn jeder zig Rollen im Stück übernimmt, heißt das auch, dass man in allen möglichen Szenen gebraucht wird. Entsprechend schwierig ist es, mit nur einem Probenabend pro Woche alle notwendigen Dinge zu proben.

Doppelt spannend wurde es, als uns zum Sommer klar wurde, dass wir einfach nicht genügend Leute für das Stück waren. Klar, man kann es vielleicht auch zu elft aufführen, wie es das GRIPS Theater selbst macht, aber dann müssten wir alles umplanen und quasi von vorne beginnen. Die Rettung war dann unsere Suche nach neuen Mitgliedern zu Beginn des Wintersemesters im Oktober. Eine überwältigende Anzahl interessierter Studierender schlug bei uns auf und wollte mitmachen, ein gutes Dutzend davon im Ensemble. Das erlaubte uns, die fehlenden Rollen zu besetzen und weiterzumachen.

Gerade für die neuen Darsteller und Darstellerinnen, die mitunter einige der Hauptrollen des Stücks übernahmen, folgte nun eine sehr intensive Probezeit. Sie mussten das, was der Rest des Ensembles bereits ein halbes Jahr lang ausgearbeitet und einstudiert hatte, innerhalb kürzester Zeit nachholen. Und das ist nicht wenig. Ganze 17 Songs zählt „Linie 1“, davon mehrere große Ensemblenummern mit teils (zumindest für uns Laien) komplizierten Choreografien.

Zwei Darsteller als Punks vorm digitalen Bühnenbild, welches die Haltestelle Schlesisches Tor zeigt

Musikalisch bewegt sich „Linie 1“ einmal quer durch die verschiedensten Genres. Zum Beispiel gehts mit „Wenn die Liebe erwacht“ einmal schön rockig zu, wenn Bambi und Kleister besingen, was Liebe für sie wirklich bedeutet.

Drei intensive Wochen

Zuletzt ging es dann in die Endprobenstrecke. Ende November wurde in unseren heiligen Hallen, dem Herbert-E.-Graus-Studio, unsere Bühne eingebaut. Seitdem proben wir jeden Tag von 17 bis teils 23 Uhr die Songs, Choreografien und Abläufe. Auch hier sorgt ordentlich für Zeitdruck, dass wir das ganze Stück in zwei Besetzungen spielen. Schließlich bietet jeder Probenabend nur Zeit für maximal eine Durchlaufprobe mit einer Besetzung.

Doch in genau diesen zwei Wochen wachsen alle Elemente zusammen. Die Szenen greifen ineinander, die von der Band begleiteten Songs fügen sich in die Geschichte ein und das Licht und das digitale Bühnenbild bringen die U-Bahnhöfe Berlins nach Mittweida.

Jetzt ist es so weit. Das, worauf wir uns seit fast einem Jahr vorbereitet haben. In ganzen acht Aufführungen – so viele hatten wir noch nie – entführen wir jetzt unser Publikum nach Westberlin 1986. Heute fuhr bei uns das erste Mal die „Linie 1“ durchs Studio und die ersten Reaktionen waren begeistert.

Also: Vorhang auf und einsteigen, bitte!

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Axel Dietze
Seit 2015 im Team der Hochschulbühne. Darsteller, Web- und Print-Chef, Regieassistent. 2. Vorsitzender von Hochschulbühne Mittweida e.V.